Montag, 8. September 2008

Was ist Bildungsbürgertum?

Was n i c h t Bildungsbürgertum ist, wird sehr plastisch in "Grete Minde" erzählt, wenn man übereinkommt, dass sowohl die Mindes als auch die Zernitzens dem Bürgertum zuzurechenen sind. Dass am Vorabend des 30jährigen Krieges, an welchem die Erzählung spielt, der Simplizissimus von Grimmelshausen noch nicht geschrieben war und in der wilhelminischen Epoche, in der sie geschrieben wurde, von einer Aufführungspraxis historischer Musiken noch nicht die Rede sein kann, ist für Fontane eigentlich kein Grund zu Bildungsferne. Bei den Mindes steht zu Weihnachten ja auch wie selbstverständlich der Christbaum in der Stube, obwohl das keineswegs den Gepflogenhaiten des angehenden 17. Jahrhunderts entspricht. Man könnte ja durchaus Hausmusik betreiben. Geige , Bratsche, Cello gab es um 1600 bereits und in ganz ähnlicher Form wie heute.

So etwas wie Bildung bricht in Gestalt einer Puppenspielertruppe in die amusische Gesellschaft ein wie das leibhafig Böse. Dergleichen beeindruckt die Tangermünder Bürgerschaft nicht wirklich. Auch unter diesem Aspekt ist das Ende logisch. Die Stadt muss brennen, und Grete Minde erscheint wie in der Antike Kaiser Nero als die "Künstlerin", die dieses "Kunstwerk" geschaffen hat, das verdiente Ende für eine bildungslose Gesellschaft.

In "Frau Jenny Treibel" ist alles anders. Hier wird sich niemand den Schuh des Banausentums anziehen wollen, am allerwenigsten die Protagonisten aus dem Dunstkreis des Willibald Schmidt. Im Vergleich zu deren humanistischer Bildung sind die Bemühungen der Treibels nachgerade als lächerlich zu charakterisieren. Dass Leopold Treibel sich mit Goethe beschäftigt, kann also keineswegs überzeugen. Und der Leser ahnt spätestens hier, dass der soziale Sprengstoff weniger in ständischen Unterschieden liegt, auch nicht in der Opposition arm vs. reich, sondern vielmehr in dem Antagonismus, der mit gebildet vs. ungebildet nur unzureichen beschrieben ist. Das überrascht in dem vorgegebenen Zusammenhang durchaus.

Die Schmidts sind, wie vor Zeiten auch die Bürstenbinders, nicht eigentlich arme Leute. Corinna hat bereits vor der Affäre mit Leopold mehr als nur einen Fuß in der Türe zur Bourgeoisie. Sie gehört schon dazu. Sowohl den Schmidts als auch den Treibels ist eine gewisse Sparsamkeit zu eigen. Bei den Treibels wird nach dem eingangs beschriebenen Diner der Springbrunnen abgestellt. Er dient der Repräsentation und hat ausgedient, wenn mit ihm kein Eindruck zu machen ist.

Nun könnte man schlussfolgern, es bestünden eigentlich keinerlei ständische Differenzen zwischen den Treibels und den Schmidts, und Jenny sowie Willibald hätten nur Angst, Leopold und Corinna könnten Halbgeschwister sein. Das wäre durchaus eine interpretatorische Perspektive, die noch dazu typisch für das Erzählen Fontanes wäre. Aber ebenso typisch sind auch die gesellschaftlichen Differenzen zwischen unterschiedlichen Personen, die hier standesintern sind. Muss man jetzt selbst mindestens Kleinbürger sein, um "Jenny Treibel" recht eigentlich verstehen zu können?

Willibald Schmidt und seine Clique sind in puncto Bildung Profis. Corinna z.B. hat einen Informationsvorsprung, der es ihr ermöglicht, mit einer Straßenbahn- oder S-Bahnfahrt Eindruck zu machen, und Willibald versteht es, Moselwein mit Flusskrebsen, damals eher ein Arme-Leute-Essen (der Hummer als Delikatesse ist aber bereits in feinen Kreisen auf dem Vormarsch), repräsentativ umzudeuten, während den Treibels derartige Manöver durchaus fremd sind. Die finanzielle Potenz wird hier eins zu eins in Standessymbole umgesetzt. Die Professoren indessen verdienen Geld mit dem, wofür die Treibels welches ausgeben. Während sich die Treibels um Bildung und Kultur bemühen müssen, wobei sie auch Irrtümern unterworfen sind, sind die Schmidts von Berufs wegen gebildet und in dieser Beziehung ihrem Gegenpol weit überlegen. Gleichzeitig werden die finanziellen Verhältnisse verschleiert.

Mit der marxistischen Analyse würde man herauszufinden haben, dass die Familie Treibel ganz der These nachlebt, dass der materiellen Basis ein Überbau entspricht, der von dieser Basis abhängig ist und auf diese wieder zurückstrahlt, während die materielle Basis der Schmidts eben dieser Überbau darstellt. Jenny Treibel fühlt das instinktiv, indem sie, ohne näheres zu wissen, davon ausgeht, dass Corinna in ihrem Verhältnis zu Leopold ganz handfest auf ihren Sohn überbaulich abgestrahlt haben müsse. Fonmtane drückt das natürlich ganz anders aus. Gleichzeitig kommt hinzu, dass die Sphäre Schmidt mit ihren Manövern Jenny Treibel von weiterer Bildung abhält, denn eine komische Figur, die permanent Fremdwörter verwechselt, ist sie nun mal nicht.

Wäre Jenny Treibel (Die Frau von Karl Marx hieß auch Jenny) der marxistischen Analyse teilhaftig, würde sie irgendwann feststellen, dass die Schmidts von allen Ständen abhängig sind, die Steuern zahlen, ihre Leistungen sich jedoch nur darauf beziehen, die Wissenschaft weiterzubringen und ggf. den Staat in seiner Repräsentativität zu stärken. Das von Willibald stammende "Wo sich Herz zu Herzen find't" , ist eine ausgesprochen dehnbare Aussage, die als solche allerdings Jennys Horizont nicht übersteigt. Die Hochzeit findet meist nach einem kognitiven Prozess statt, dem die Liebenden unterworfen sind, und so soll es, geht es nach Corinna, auch im Verhältnis zu Leopold sein. Jenny hat gelernt, das anders ("dialektisch") zu sehen und kommt, wenn auch zähneknirschend, zu der Erkenntnis, dass namentlich die Hochzeit stattfinden könne, bevor Herz zu Herzen findet. Willibald Schmidt braucht also kein Hellseher zu sein, wenn er gegenüber Marcell Wedderkopp mutmaßt, dass die Sache mit Corinna und Leopold wohl nichts werden würde.

Dass Fontane den Schmidts Autobiographisches beigegeben hätte, mag sein, hat aber auf die Sympathielenkung kaum Einfluss, wenn man auch diese polyperspektivisch sieht. Das Autobiographische ist nicht höher einzuschätzen als das Verfahren, mit Hilfe von Modellen aus der eigenen Umgebung ein Gemälde oder eine Plastik anzufertigen, so wie man das etwa Tilman Riemenschneider nachsagt. Fontanes Biographie unterscheidet sich zudem erheblich von denen der Schmidts. Der Schriftsteller war zunächst Apotheker von Beruf, hatte diesen Beruf zu Gunsten des Journalismus an den Nagel gehängt und hat sich endlich als Schriftsteller profiliert. Archäologie oder einen speziellen Humanismus propagiert Fontane nicht. Aus seinen Werken spricht eine gewisse Bildungsskepsis, zumindest bezüglich der Bildung seiner Zeit. Diese Skepsis verstärkt sich noch in "Mathilde Möhring". Diese Novelle mit märchenhaften Zügen hat Fontane zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlicht, obwohl ihre Entstehung bis in das Jahr 1891 zurückreicht. Was das Fragmentarische betrifft, ist es also keineswegs so, dass der Tod dem Dichter beim Schreiben dieses Werkes die Feder aus der Hand genommen hätte.

In "Mathilde Möhring" wird also die Bildugsskepsis verstärkt. Zum einen erscheint bürgerliche Bildung, um die sich der vorgestellte (halbe) Held Hugo Großmann durchaus bemüht, obsolet. Sein Freund Rybinski ist mit einigem Erfolg Schauspieler geworden und gestaltet somit das bürgerliche Bildungsideal mit. Dabei lebt er von dem, was für andere etwas Zusätzliches darstellt (siehe oben). Andererseits findet eine Konfrontation mit dem Bildungswesen statt. Das impliziert auch Prüfungen, d.h. Inhalte, um die sich der Prüfling ohne staatliche Kontrolle nicht kümmern müsste. Mathilde Möhring steht für dieses Prinzip und ohne über dessen Sinn oder Unsinn nachzudenken. Unsympathisch ist sie eigentlich nicht. Das Bildungssystem ist für sie das Medium aufzusteigen und die kleinbürgerliche Sphäre, der sie ursprünglich angehört, hinter sich zu lassen und sich im saturierten Bürgertum anzusiedeln, zu ihrer Ehrenrettung nur im Streben nach Glück, nicht nach Macht und zunächst als Hugo Großmanns Ehefrau.

Hugo Großmann steht im Spannungsfeld zwischen dem bürgerlichen Kulturgut, das unter falschen Voraussetzungen von dem Schauspieler Rybinski repräsentiert wird, und von dem Bildungssystem, für das Mathilde Möhring steht. Anders als Jenny Treibel stört Mathilde Möhring das professionell betriebene Kulturgut nicht. Nach dem Tod Hugo Großmanns erstrebt sie dieses für sich selbst, allerdings auf einem niedrigeren Niveau. Bei allem was sie tut, geht sie systhematisch zu Werke. So ist es auch Mathilde, die Hugo Großmann den Posten als Burgemeister in Woldenstein verschafft. Dafür braucht er allerdings weder fachliche Kentnisse nocht gibt es Prüfungen, und auch das bürgerliche Kulturgut nützt ihm in der Provinz nicht viel. So wird er von all den Ungereimtheiten wie in einem Mahlwerk binnen kürzester Zeit zerrieben, was sich in einem raschen körperlichen Verfall äußert.

Während bei den Treibels so ziemlich alles zum Kulturgut werden kann, herrscht bei den Möhrings eine Atmosphäre der Dürftigkeit, wenn ich Walter Müller-Seidel richtig verstehe. Das bürgerliche Bildungsgut erscheint auf ein paar Klassiker, genauer gesagt auf Schillers Räuber und die Jungfrau von Orleans geschrumpft. Von der das bürgerliche Kulturgut bis weit in's 20. Jahrhundert bestimmende Komischen Oper ist z.B. nicht die Rede. Auf dem Gebiet des prüfbaren Wissens kommt niemand auf die Idee, etwa die Geisteswissenschaften einzubeziehen.

Wer also nicht nur Klassenbester sein will, sondern darüberhinaus gesellshaftlich aufsteigen möchte, muss sich auf das Wesentliche vom Wesentlichen konzentrieren, auch auf die Gefahr hin, dass die zunächst einheitliche Bildung auseinanderbricht. So die Sicht von Theodor Fontane.