Dienstag, 6. Januar 2009

Das allein kann's nicht sein.

Wenn der Roman l'Adultera von Theodor Fontane anhebt, ist, wie so oft bei diesem Autor, bereits alles entschieden. Die Grabenkämpfe zwischen Ezechiel van der Straaten und Melanie sind beigelegt. Es herrscht Frieden zwischen den Parteien, ein trügerischer Frieden. Nur Kenner der Familie wissen die noch verbliebenen Sticheleien als Rudimente eines früheren Streites zu deuten, die, alle zusammengenommen, im Normalfall so etwas wie Scheidung kaum rechtfertigen. Alle spüren jedoch, dass es zum Eklat kommen muss, man weiß nur noch nicht wann. Van der Straaten selbst liefert - das Wort ist richtig gewählt, denn Van der Straaten ist ein bekannter Handelsmann - den Scheidungsgrund, und zwar in Form des Ebenezer Rubehn, der als eine Art Tartüffe bei den Van der Straatens einziehen soll. Hier käme es rasch zur Explosion, spielte die Szene in einem kleinbürgerlichen bzw. proletarischen Haushalt. Sie ist aber dort nicht angesiedelt, sondern im piekfeinen Berlin der wilhelminischen Epoche. Und so kann das Spiel nun erst richtig beginnen.

L'Adultera war ursprünglich als Novelle bezeichnet, in der laut Goethe etwas Unerhörtes im erzählerischen Zentrum stehen soll. Im vorliegenden Fall wendet sich eine junge Frau von ihrem Mann ab, der, Bildersammler, als feinsinnig zu gelten hat, um sich einem noch feinsinngeren Manne zuzuwenden. Als Normalfall ist hingegen anzusetzen, dass die Nähe eines wenig gebildeten Mannes gesucht wird, der körperliche Zuwendung und einiges Verständnis für die Frau verspricht. Ezechiel ist dieser Mann keineswegs, obwohl gelegentliche Berolinismen festzustellen sind, die auf einen Mangel an Schulbildung zurückgeführt werden können. Melanie begegnet der Leidenschaft ihres Mannes mit Unverständnis. Sie pflegt das bürgerliche Kulturgut, in das sich übrigens Fontane gerade hineinschreibt, in allgemeinerer Form. Obwohl auch Malerei und Literatur zu diesem Kulturgut gehören, ist eine Fokussierung auf die Musik und auf den Musikgiganten Richard Wagner festzustellen.

Während der Bildersammler per definitionem einen extremen Materialismus pflegt, und zwar in doppelter Hinsicht - Bildersammeln ist teuer; dafür hat man auch etwas Greifbares im der Hand - fällt demgegenüber Ende des 19. jahrhunderts die Musikpflege in bürgerlichen Haushalten ab. Die spätromantische Virtuosenmusik ist für nebenberufliche Musiker auf Grund des Schwierigkeitsgrades kaum darstellbar. Man beschränkt sich daher auf die Adaption des bürgerlichen Kulturgutes in leichten Bearbeitungen für die klassischen Instrumente, Geige und Klavier. Die van der Straatens betreiben volksliedhaften Gesang. Eine Klavier- und Gesangslehrerin - Anastasia Schmidt - sorgt für die (einfache) Klavierbegleitung. Darüberhinaus pflegt einer der befreundeten Maler das Mundharmonikaspiel. Wo und wie konnte man sich in diesem Umfeld (ohne Tonträger) dem Operngiganten Richard Wagner nähern?

Die einzige Möglichkeit ist, den einschlägigen Opernaufführungen beizuwohnen. Die Chancen dazu sind in der Weltstadt Berlin natürlich wesentlich großer als anderwärts. Die Gleichstellung der Wagnerschen Musik mit dem übrigen bürgerlichen Kulturgut ist wegen deren Komplexität ausgesprochen schwierig. Zumindest besteht die Gefahr, dass die fein-erotische Leitmotivik verloren geht. Ein großes Kurorchester konnte Ausschnitte aus Wagners Opern präsentieren, und auch die Textbücher waren im Umlauf, konkurrierten etwa mit Hebbelschen Dramen.

Das Spielen von Klavierauszügen basierend auf Wagners Musik war Virtuosen vorbehalten, die allerdings damit ihr Eigentliches vernachlässigten. Der schlesische Heimatdichter Paul Keller (1873 - 1932) berichtet um 1915 in einer autobiografischen Erzählung von einem Schulfreund, der den Walkürenritt auf der Orgel zu spielen verstand, während er, Keller, sich mit seinem Orgelauch begnügen musste. Paul Keller spielt wohl auf einen Barockkomponisten namens Gottfried Keller an, der um 1700 in London wirkte, dort 1704 gestorben ist, und dessen feingliedrige Werke wohl nicht nur für die Kellers verbindlich wurde, sondern auch etwa für die Novellistik Paul Heyses, die in l'Arrabiata die Kurzgeschichte vorwegnimmt.

Auch Fontane stellt die Frage nach der historischen Musik, und zwar ziemlich überspitzt in seinem Gedicht "Lurenkonzert". Er mag aber während seiner Londoner Zeit durchaus in alte Musikalien Einblick gehabt haben, und Melanie van der Straaten durchaus im Zusammenhang mit "Blockflötenmusik" denkbar. Jedoch war die Zeit noch nicht reif für Derartiges. Darüberhinaus ist auch für die Pflege älterer Musik eine gewisse Grundvirtuosität notwendig, die keineswegs für das gesamte Bürgertum oder eine andere Schicht vorausgesetzt werden kann.

Ähnliches mag Ezechiel van der Straaten seiner Ehefrau im Laufe der über zehnjährigen Ehe vorgehalten haben. Irgendwann ist dann wohl das Gegenargument genannt worden, dass in einer bürgerlichen Bildersammlung entweder Bilder noch unbekannter Maler oder Kopien Alter Meister versammelt sind. Gegen solche Kopien, sei es nun in schwarz-weiß fotografierte oder in Öl abgemalte, ist im Grunde gar nichts einzuwenden. Man darf sich bloß nicht einbilden, dass sie das Eigentliche darstellten.

Melanie van der Straatenkann durchaus mit Ibsens Nora verglichen werden, auch wenn das, was ihr der Ehemann bietet, keineswegs ein Puppenheim ist, sondern eher das Gegenteil. Ebenso wie Melanie verlässt Nora ihren Mann. Damit ist Ibsens Drama beendet. Fontanes Erzählung geht indessen noch ein Stück weiter. Vor allem unterschlägt uns der Dramatiker, wie sich die Protagonistin in einer männerdominierten Welt außerhalb der Ehe zurechtfinden soll. Für Melanie gerät bereits der Weg von der ehelichen Wohnung zum Bahnhof, wo sie ein neuer Mann erwartet, zum Spießrutenlauf. Melanie braucht diesen zweiten Mann, um ihre Pläne zu verwirklichen, die Originale der kopierten Bilder zu sehen.

Fontanes Erzählung endet modern, fast modernistisch, mit einer Art Ehe zu dritt, in der der Ex-Mann durchaus noch seinen Platz hat.

Sonntag, 23. November 2008

Von Lesen eines Romans

In so gut wie allen Fachpublikationen zum Thema Roman gehen die Autoren davon aus, dass das Werk in seiner Gesamtheit vor dem Leser ausgebreitet erscheint. Das ist verständlich, steht doch nicht mehr das naive Lesen in Vordergrund, sondern die Analyse. Argumentationsstränge werden ausgearbeitet, Teilaspekte dargestellt. Die Abfolge der Erzählung ist wohl nicht mehr als ein solcher Teilaspekt. Sie gehorcht dem aristotelischen Prinzip, dass den Anfang nichts vorausgeht und den Ende nichts mehr folgt. Jedes weitere erzählende Element hat eines, das ihm vorausgeht und eines, welches ihm folgt. Diese "Narrateme" sind nicht willkürlich, sondern gehorchen einer strengen Abfolge, die von Autor festgelegt ist.

Die Abfolge des Geschehens ist nicht identisch mit der Abfolge der narrativen Elemente, da sowohl der Erzähler als auch jede agierende Person den Rahmen des Erzählten sprengen und über das jeweilige Element, ja sogar über Anfang und Ende hinausweisen können. Es ist in jedem Falle ratsam, bei der Lektüre mit dem Anfang zu beginnen, den narrativen Elementen in ihrer Abfolge minutiös zu folgen, um mit dem Schluss aufzuhören, zumindest in der Erzählung Schach von Wuthenow von Theodor Fontane.

Was wird hier erzählt? Nun, zunächst findet sich, bevor so etwas wie eine Handlung entsteht, der Leser in verschiedenen Salons des Berlin von etwa 1804 wieder. Nach etlichem argumentatorischen Hin und Her, das eher die Historiker betrifft als die Literaturwissenschaftler, kristallisiert sich eine delikate Beziehung zwischen einem gewissen Schach von Wuthenow und der Victoire von Carayon heraus. Schach ist schön. Victoire war schön, ist im Augenblick der Erzählung durch Blatternnarben entstellt.

Im weiteren Verlauf sucht Schach Mutter und Tochter Carayon auf - die Mutter ist immer noch eine Schönheit - trifft aber nur victoire an. Dieses offensichtlich harmlose Treffen wird von den gesellschaftlichen Instanzen zum Anlass genommen, Schach mit Victoire zu verheiraten. Dabei ist zu beobachten, dass die Liebe Schachs immer kleiner wird, während sich das in der bürgerlichen Ideologie des 19. Jahrhunderts gerade umgekehrt verhält. Herz findet sich also hier nicht zum Herzen. Eine Hochzeit wird dennoch ausgerichtet. Nach der durchaus als dürftig zu bezeichnenden Feier erschießt sich Schach von Wuthenow.

Im letzten Kapitel, also denjenigen, dem nichts mehr folgt, erfährt der Leser fast beiläufig, dass trotz der nur wenige Stunden andauernden Ehe aus dieser ein Kind hervorgegangen ist. Diese Tatsache lässt alles Vorangegangene in einem anderen Licht erscheinen. Der schöne Schach von Wuthenow muss die von Blatternnarben entstellte Victoire mindestens einmal körperlich geliebt haben. Also war das harmlose Treffen doch so harmlos nicht, und es stellt sich die Frage, wer von dieser Tatsache gewusst hat. Und die Antwort muss lauten: Niemand, am allerwenigsten diejenigen, die sich über das ungleiche Paar lustig machen.

Bei einer dieser Paraden erleidet Victoire einen Schwächeanfall, und sie beichtet ihrer Mutter. Von dem Kind erfährt der Leser dabei aber immer noch nichts. Dass Victoire der Heirat zustimmt, wäre allerdings ein Indiz gewesen, das man hätte erkennen müssen. In ähnlich gelagerten Fällen nämlich, in denen die Protagonistin nur für sich alleine zu entscheiden hat, wird der weniger erfolgreiche Galan in die Freiheit entlassen.

Der ganze innere Monolog Schachs hängt also bewusst oder unbewusst von der einmal erfüllten Liebe zu Victoire, dem Zeugugssachverhalt also, ab. Ohne überhaupt eine Idee von seiner Verantwortung zu haben, richtet sich der Protagonist selber. Er akzeptiert das gesellschaftliche Votum, das ebenfalls auf falschen Voraussetzungen beruht, entzieht sich lediglich der Ehe durch Selbstmord. Man denkt an Mephistos: "Du gleichst dem Geist, den du begreifst."

In dem hier beschriebenen Rahmen bewegen sich alle anderen Argumente. Sie sind diesem Rahmen durchaus unterzuordnen. Man muss sich klar machen, dass die Romane Theodor Fontanes meist in vorab gedruckten Fortsetzungen in Zeitschriften erschienen, so dass der "Primärleser" zum richtigen Lesen gezwungen war. Wollte er, so wie das ratsam ist, einige Stellen vertiefen, musste er sich die jeweiligen Nummern der Zeitschrift aufheben oder auf die Buchausgabe warten.

Samstag, 11. Oktober 2008

Die Davysche Dampfstraßenbahn

Die Berliner Dampfstraßenbahn - in vielen deutschen Großstädten wie gab es zur fraglichen Zeit ein solches Verkehrsmittel - wurde im Mai 1888 eröffnet und fuhr vom Zoologischen Garten nach Halensee. Die Bahn wird bei Theodor Fontane im Roman "Frau Jenny Treibel" zu Anfang des zehnten Kapitels auf folgende Weise erwähnt.

"Alte und junge Treibels, desgleichen die Felgentreus, hatten sich in eigenen Equipagen eingefunden, während Krola, von seinem Quartett begleitet, aus nicht aufgeklärten Gründen die neue Dampfbahn, Corinna aber mutterwindallein ... die Stadtbahn benutzt hatte."

Fontane
spielt heir mit der Bemerkung "aus nicht aufgeklärten Gründen" u.a. auf die Überflüssigkeit der Dampfstraßenbahn an. Ihre Endstation lag zwar, wie etwa bei der Nymphenburger Dampfstraßenbahn in München auch, in der Nähe von Vergnügungsstätten, also im Falle Berlins in Halensee. Allerdings konnte Halensee auch mit der Stadtbahn, der alten Dampfbahn, erreicht werden.

Die Berliner Dampfstraßenbahn war also selbst eine Attraktion ohne rechte Beförderungsfunktion, mit der Projekte der gleichen Art imitiert wurden und mit der allenfalls eine Spazierfahrt über den Kurfürstendamm unternommen werden konnte. Das Unternehmen war also höchst epigonal, noch dazu wo Berlin seit 1881 über die erste elektrische Straßenbahn (in Lichterfelde) verfügte, die ab 1891 sogar mit einer Oberleitung betrieben wurde. Dass der Verkehrsstrom über den Kurfürstendamm hinaus nur sehr spärlich fließt, zeigt sich daran,, dass heute die U-Bahn-Stichstrecke zum Kurfürstendamm schon an der Uhlandstraße endet und nicht bis Halensee durchgeführt wurde.

Der Pfiff der vorliegenden Szene besteht darin, dass gleichzeitig eine Gepflogenheit Berliner Cliquen vorgestellt, andererseits ein Schlaglicht auf Corinna Schmidt geworfen wird. Die Gepflogenheit besteht darin, sich einerseits in Halensee zu verabreden, andererseits sich schon auf der Fahrt dorthin zu treffen. Die Wahl des Verkehrsmittels stellt dabei eine Art Lotteriespiel dar. Krola und sein Gesangsquartett haben wohl, jede der fünf Personen für sich, die Dampfstraßenbahn gewählt, in der Hoffnung, Corinna zu treffen. Corinna indessen hat alle ihre Verehrer ausgetrickst und ist mit der S-Bahn angereist, "muuterwindallein".

Die für wilhelminische Verhältnisse sowohl etwas großspurige ("Kunststopfereifrage") wie auch blaustrümpfige Corinna hätte es wohl nicht nötig gehabt, sich Leopold Treibel aus opportunistischen Gründen an den Hals zu werfen und sich am Schluss nach Scheitern ihres ersten Plans mit ihrem Cousin Marcell Wedderkopp zu begnügen. Welche konkreten Verhältnisse hinter dem Erzählten stehen, ist wohl "ein weites Feld".

Montag, 8. September 2008

Was ist Bildungsbürgertum?

Was n i c h t Bildungsbürgertum ist, wird sehr plastisch in "Grete Minde" erzählt, wenn man übereinkommt, dass sowohl die Mindes als auch die Zernitzens dem Bürgertum zuzurechenen sind. Dass am Vorabend des 30jährigen Krieges, an welchem die Erzählung spielt, der Simplizissimus von Grimmelshausen noch nicht geschrieben war und in der wilhelminischen Epoche, in der sie geschrieben wurde, von einer Aufführungspraxis historischer Musiken noch nicht die Rede sein kann, ist für Fontane eigentlich kein Grund zu Bildungsferne. Bei den Mindes steht zu Weihnachten ja auch wie selbstverständlich der Christbaum in der Stube, obwohl das keineswegs den Gepflogenhaiten des angehenden 17. Jahrhunderts entspricht. Man könnte ja durchaus Hausmusik betreiben. Geige , Bratsche, Cello gab es um 1600 bereits und in ganz ähnlicher Form wie heute.

So etwas wie Bildung bricht in Gestalt einer Puppenspielertruppe in die amusische Gesellschaft ein wie das leibhafig Böse. Dergleichen beeindruckt die Tangermünder Bürgerschaft nicht wirklich. Auch unter diesem Aspekt ist das Ende logisch. Die Stadt muss brennen, und Grete Minde erscheint wie in der Antike Kaiser Nero als die "Künstlerin", die dieses "Kunstwerk" geschaffen hat, das verdiente Ende für eine bildungslose Gesellschaft.

In "Frau Jenny Treibel" ist alles anders. Hier wird sich niemand den Schuh des Banausentums anziehen wollen, am allerwenigsten die Protagonisten aus dem Dunstkreis des Willibald Schmidt. Im Vergleich zu deren humanistischer Bildung sind die Bemühungen der Treibels nachgerade als lächerlich zu charakterisieren. Dass Leopold Treibel sich mit Goethe beschäftigt, kann also keineswegs überzeugen. Und der Leser ahnt spätestens hier, dass der soziale Sprengstoff weniger in ständischen Unterschieden liegt, auch nicht in der Opposition arm vs. reich, sondern vielmehr in dem Antagonismus, der mit gebildet vs. ungebildet nur unzureichen beschrieben ist. Das überrascht in dem vorgegebenen Zusammenhang durchaus.

Die Schmidts sind, wie vor Zeiten auch die Bürstenbinders, nicht eigentlich arme Leute. Corinna hat bereits vor der Affäre mit Leopold mehr als nur einen Fuß in der Türe zur Bourgeoisie. Sie gehört schon dazu. Sowohl den Schmidts als auch den Treibels ist eine gewisse Sparsamkeit zu eigen. Bei den Treibels wird nach dem eingangs beschriebenen Diner der Springbrunnen abgestellt. Er dient der Repräsentation und hat ausgedient, wenn mit ihm kein Eindruck zu machen ist.

Nun könnte man schlussfolgern, es bestünden eigentlich keinerlei ständische Differenzen zwischen den Treibels und den Schmidts, und Jenny sowie Willibald hätten nur Angst, Leopold und Corinna könnten Halbgeschwister sein. Das wäre durchaus eine interpretatorische Perspektive, die noch dazu typisch für das Erzählen Fontanes wäre. Aber ebenso typisch sind auch die gesellschaftlichen Differenzen zwischen unterschiedlichen Personen, die hier standesintern sind. Muss man jetzt selbst mindestens Kleinbürger sein, um "Jenny Treibel" recht eigentlich verstehen zu können?

Willibald Schmidt und seine Clique sind in puncto Bildung Profis. Corinna z.B. hat einen Informationsvorsprung, der es ihr ermöglicht, mit einer Straßenbahn- oder S-Bahnfahrt Eindruck zu machen, und Willibald versteht es, Moselwein mit Flusskrebsen, damals eher ein Arme-Leute-Essen (der Hummer als Delikatesse ist aber bereits in feinen Kreisen auf dem Vormarsch), repräsentativ umzudeuten, während den Treibels derartige Manöver durchaus fremd sind. Die finanzielle Potenz wird hier eins zu eins in Standessymbole umgesetzt. Die Professoren indessen verdienen Geld mit dem, wofür die Treibels welches ausgeben. Während sich die Treibels um Bildung und Kultur bemühen müssen, wobei sie auch Irrtümern unterworfen sind, sind die Schmidts von Berufs wegen gebildet und in dieser Beziehung ihrem Gegenpol weit überlegen. Gleichzeitig werden die finanziellen Verhältnisse verschleiert.

Mit der marxistischen Analyse würde man herauszufinden haben, dass die Familie Treibel ganz der These nachlebt, dass der materiellen Basis ein Überbau entspricht, der von dieser Basis abhängig ist und auf diese wieder zurückstrahlt, während die materielle Basis der Schmidts eben dieser Überbau darstellt. Jenny Treibel fühlt das instinktiv, indem sie, ohne näheres zu wissen, davon ausgeht, dass Corinna in ihrem Verhältnis zu Leopold ganz handfest auf ihren Sohn überbaulich abgestrahlt haben müsse. Fonmtane drückt das natürlich ganz anders aus. Gleichzeitig kommt hinzu, dass die Sphäre Schmidt mit ihren Manövern Jenny Treibel von weiterer Bildung abhält, denn eine komische Figur, die permanent Fremdwörter verwechselt, ist sie nun mal nicht.

Wäre Jenny Treibel (Die Frau von Karl Marx hieß auch Jenny) der marxistischen Analyse teilhaftig, würde sie irgendwann feststellen, dass die Schmidts von allen Ständen abhängig sind, die Steuern zahlen, ihre Leistungen sich jedoch nur darauf beziehen, die Wissenschaft weiterzubringen und ggf. den Staat in seiner Repräsentativität zu stärken. Das von Willibald stammende "Wo sich Herz zu Herzen find't" , ist eine ausgesprochen dehnbare Aussage, die als solche allerdings Jennys Horizont nicht übersteigt. Die Hochzeit findet meist nach einem kognitiven Prozess statt, dem die Liebenden unterworfen sind, und so soll es, geht es nach Corinna, auch im Verhältnis zu Leopold sein. Jenny hat gelernt, das anders ("dialektisch") zu sehen und kommt, wenn auch zähneknirschend, zu der Erkenntnis, dass namentlich die Hochzeit stattfinden könne, bevor Herz zu Herzen findet. Willibald Schmidt braucht also kein Hellseher zu sein, wenn er gegenüber Marcell Wedderkopp mutmaßt, dass die Sache mit Corinna und Leopold wohl nichts werden würde.

Dass Fontane den Schmidts Autobiographisches beigegeben hätte, mag sein, hat aber auf die Sympathielenkung kaum Einfluss, wenn man auch diese polyperspektivisch sieht. Das Autobiographische ist nicht höher einzuschätzen als das Verfahren, mit Hilfe von Modellen aus der eigenen Umgebung ein Gemälde oder eine Plastik anzufertigen, so wie man das etwa Tilman Riemenschneider nachsagt. Fontanes Biographie unterscheidet sich zudem erheblich von denen der Schmidts. Der Schriftsteller war zunächst Apotheker von Beruf, hatte diesen Beruf zu Gunsten des Journalismus an den Nagel gehängt und hat sich endlich als Schriftsteller profiliert. Archäologie oder einen speziellen Humanismus propagiert Fontane nicht. Aus seinen Werken spricht eine gewisse Bildungsskepsis, zumindest bezüglich der Bildung seiner Zeit. Diese Skepsis verstärkt sich noch in "Mathilde Möhring". Diese Novelle mit märchenhaften Zügen hat Fontane zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlicht, obwohl ihre Entstehung bis in das Jahr 1891 zurückreicht. Was das Fragmentarische betrifft, ist es also keineswegs so, dass der Tod dem Dichter beim Schreiben dieses Werkes die Feder aus der Hand genommen hätte.

In "Mathilde Möhring" wird also die Bildugsskepsis verstärkt. Zum einen erscheint bürgerliche Bildung, um die sich der vorgestellte (halbe) Held Hugo Großmann durchaus bemüht, obsolet. Sein Freund Rybinski ist mit einigem Erfolg Schauspieler geworden und gestaltet somit das bürgerliche Bildungsideal mit. Dabei lebt er von dem, was für andere etwas Zusätzliches darstellt (siehe oben). Andererseits findet eine Konfrontation mit dem Bildungswesen statt. Das impliziert auch Prüfungen, d.h. Inhalte, um die sich der Prüfling ohne staatliche Kontrolle nicht kümmern müsste. Mathilde Möhring steht für dieses Prinzip und ohne über dessen Sinn oder Unsinn nachzudenken. Unsympathisch ist sie eigentlich nicht. Das Bildungssystem ist für sie das Medium aufzusteigen und die kleinbürgerliche Sphäre, der sie ursprünglich angehört, hinter sich zu lassen und sich im saturierten Bürgertum anzusiedeln, zu ihrer Ehrenrettung nur im Streben nach Glück, nicht nach Macht und zunächst als Hugo Großmanns Ehefrau.

Hugo Großmann steht im Spannungsfeld zwischen dem bürgerlichen Kulturgut, das unter falschen Voraussetzungen von dem Schauspieler Rybinski repräsentiert wird, und von dem Bildungssystem, für das Mathilde Möhring steht. Anders als Jenny Treibel stört Mathilde Möhring das professionell betriebene Kulturgut nicht. Nach dem Tod Hugo Großmanns erstrebt sie dieses für sich selbst, allerdings auf einem niedrigeren Niveau. Bei allem was sie tut, geht sie systhematisch zu Werke. So ist es auch Mathilde, die Hugo Großmann den Posten als Burgemeister in Woldenstein verschafft. Dafür braucht er allerdings weder fachliche Kentnisse nocht gibt es Prüfungen, und auch das bürgerliche Kulturgut nützt ihm in der Provinz nicht viel. So wird er von all den Ungereimtheiten wie in einem Mahlwerk binnen kürzester Zeit zerrieben, was sich in einem raschen körperlichen Verfall äußert.

Während bei den Treibels so ziemlich alles zum Kulturgut werden kann, herrscht bei den Möhrings eine Atmosphäre der Dürftigkeit, wenn ich Walter Müller-Seidel richtig verstehe. Das bürgerliche Bildungsgut erscheint auf ein paar Klassiker, genauer gesagt auf Schillers Räuber und die Jungfrau von Orleans geschrumpft. Von der das bürgerliche Kulturgut bis weit in's 20. Jahrhundert bestimmende Komischen Oper ist z.B. nicht die Rede. Auf dem Gebiet des prüfbaren Wissens kommt niemand auf die Idee, etwa die Geisteswissenschaften einzubeziehen.

Wer also nicht nur Klassenbester sein will, sondern darüberhinaus gesellshaftlich aufsteigen möchte, muss sich auf das Wesentliche vom Wesentlichen konzentrieren, auch auf die Gefahr hin, dass die zunächst einheitliche Bildung auseinanderbricht. So die Sicht von Theodor Fontane.

Sonntag, 31. August 2008

Der strategische Tod bei Fontane

In der Tragödie, so heißt es irgendwo, sind am Ende alle tot, die tot sein müssen. Bei Theodor Fontane ist das nicht so einfach, ein weites Feld. In "Irrungen, Wirrungen" sind am Ende nicht alle tot. Obwohl dieser Roman nichts nehr ist als tragisch, stirbt nur die Mutter Nimptsch, die ohnehin der Generation angehört, bei der der Tod, formallogisch gesehen, keineswegs etwas Bemerkenswertes darstellt. Es entspricht dem Lauf der Dinge, obwohl es keinen Leser gibt, der nicht tief gerührt wäre. Dennoch handelt es sich um einen strategischen Tod oder vielleicht auch gerade deswegen. Mit dem strategischen Tod versucht der Autor zu verhindern, dass sich eine Figur im Nichts verliert. So ist die Mutter Nimptsch die einzige Figur in diesem Roman, die in ihrer Endlichkeit abgeschlossen erscheint. Mit 70 Jahren ist der Tod auch in Fontanes Romanwelt nicht von Zwangsläufigkeit. Es gibt da auch wesentlich Ältere, den Pastor Petersen in "Unwiederbringlich" oder die Domina in "Grete Minde".

Die übrigen Hauptfiguren des Romans werden in die Ungewissheit entlassen. Der weiterdenkende Leser sieht, wie Käthe von Sellenthin/Rienäcker den von der Familie ersehnten Stammhalter bringt, wird aber gleichzeitig den Verdacht nicht loswerden, der Urheber sei irgendeine "komische" Figur niederen Standes. Botho von Rienäcker, der im Grunde kaum Interesse an Frauen hat, wird sich damit arrangieren und an der Ehe festhalten. Gideon Franke wird wohl nicht Lenes letztes Experiment in Sachen Männer sein. Ob sich Lene und Gideon eine Scheidung werden leisten können? Man würde es Lene Nimptsch wünschen, war doch das Arrangement der Hochzeit durch den Sektierer nur zu entwürdigend.

Auch Effi Briests Tod ist trotz der Tränen, die der Leser dabei vergießen mag, ein rein strategischer. Fontane "nutzt" ihn zur Bestätigung seiner Sympathielenkung, die Geert von Innstetten als eine Figur ohne rechte Liebe darstellt. Die Meinung einer Figur, die auf den Tod darniederliegt, kann nicht Lüge sein und muss Bestand haben. Geert von Innstettens Ruf als der Piefke, Preuße oder, wenn man selbst im Lande hockt, Hundertfuffzigprozentige ist somit besiegelt. Eine Kritik am Staat an sich ist aus diesem Faktum eigentlich nicht abzulesen.

Auch der Tod der Christine Holk in "Unwiederbringlich" ist in gewisser Weise strategisch. Zwar hat die Figur bei ihrem Ende die Grenzen ihrer Möglichkeiten erreicht. Jedoch würde die Darstellung, wie die alles in allem sympathische geistig Umnachtete von ihrer Familie liebevoll gepflegt wird, zu viele wilhelminische Konventionen sprengen, da ja sicherlich auch - nach dem deutsch-dänischen Krieg - alle KopenhagenerBekannten, inklusive Ebba mit Ehemann zu Besuch kommen müssten. Mal ganz abgesehen von dem enormen Kitschfaktor würde selbst den von Thomas Mann her bekannte Romanumfang sprengen und trotzdem michts Wesentliches mehr beitragen. Zudem wäre die funktionslose Darstellung von Krankheit Naturalismus, den Fontane ablehnte.

Nicht strategisch ist indessen in "Stine" der Tod von Waldemar von Haldern. Er ist vielmehr notwendig, wenn auch nicht eigentlich tragisch. Der Protagonist übersieht den Ausweg, wegen seiner Kiegsverletzung gar nicht standesgemäß heiraten zu können und infolgedessen eine kameradschaftliche Ehe eingehen zu dürfen. Der Selbstmord des Grafen ist für Fontanes Verhältnisse ziemlich eingehend und auch eindeutig beschrieben. Alles andere entspräche nicht von Halderns Charakter.

Der einzige Roman Fontanes, in dem überhaupt niemand stirbt, der also ohne strategischen oder nicht strategischen Tod auszukommen scheint, ist "Frau Jenny Treibel" . Das heißt natürlich zunächst einmal, dass sämtliche Personen nicht definiert im Sinne von endlich sind. Selbst der vor Beginn der Erzählung bereits verstorbene Wachtmeister Schmolcke wird in das open end hineingezogen. Da man bei Fontane ja oft nicht immer mit letzter Gewissheit erkennen kann, was geschehen ist, sind Aussagen bezüglich der Zukunft noch viel weniger zu treffen. Zum Zeitpunkt des Romanendes von "Stine" lebt die Titelheldin noch, und ihr Ihrem-Geliebten-Nachsterben ist vor der Hand noch reine Spekulation, und auch dass Leopold Treibel Hildegard Munk heiraten wird, ist nach der Maßgabe, dass man Verlobungen auch auflösen kann, - im Falle der Beziehung mit Corinna zeigt sich das überdeutlich - mit einem dicken Fragezeichen zu versehen. Darüberhinaus kann bereits über eine beginnende oder mögliche Lungenkrankheit Leopolds spekuliert werden, jedoch ist eine Diagnose nicht Teil des Romans.

Der Leser gewinnt in "Frau Jenny Treibel" den Eindruck, dass durchaus der Tod bereits über der ganzen Szene schwebt. Das liegt zum einen an der Vielzahl der auftretenden Personen und der Knappheit der erzählten Zeit, die, von der Überbringung der Einladung an Willibald Schmidt durch die Protagonistin bis zur Hochzeit Corinnas gerade mal eben zwei Monate umfasst. Der Tod als Sensenmann wäre innerhalb dieses Rahmens mit dem Realismus Fontanes kaum vereinbar. Allerdings ist hiermit auch der erzählerische Rahmen für Fontanes Werk bis hin zum "Stechlin" abgesteckt.

Marcell und Corinna Wedderkopp sollen, so will es jedenfalls die Karriere und die Planung Willibald Schmidts gemeinsam zu wissenschaftlichen Grabungen aufbrechen, was nicht immer ohne Risiken für Leib und Leben ist. Recht stabil erscheint indessen der Kommerzienrat Treibel, obwohl man diesem den Tod in den nächsten zehn Jahren voraussagt.

Freitag, 22. August 2008

Warum kommt Käthe von Sellenthin immer so schlecht weg?

Wenn man den kleinen Roman "Irrungen, Wirrungen" eingehender betrachtet, stellt man fest, dass die Beziehung, genauer gesagt die eheliche Beziehung zwischen Botho von Rienäcker und Käthe von Sellenthin etwa die Hälfte des Erzählten einnimmt, d.h. die zweite Hälfte. Die beiden kannten sich durchaus von früher her, und man muss bei jeder Analyse einbeziehen, dass dieses Früher Auswirkungen auf das Hier und Jetzt gehabt haben könnte. Wenn Käthe etwas dalbrig ist, so liegt das nicht nur in ihren Genen, sondern ist möglicherweise ein Produkt der Erziehung oder der gesellschftlichen Einflüsse.

Fontane lässt den Leser über das Früher und vor allem über dessen Ausmaß im Unklaren. Wie derartiges aussieht, erfahren wir zum Beispiel im ersten Kapitel von Grete Minde. War dem auch in der Beziehung zwischen Botho und Käthe so, haben das Leben bzw. die Gesellschaft Käthe von Sellenthin ganz übel mitgespielt, indem sie aus taktischen Gründen eine Ehe eingehen soll, mit einem Mann, zu dem ihre Beziehung beendet, die Liebe erloschen ist. Anders als Corinna Schmidt in Frau Jenny Treibel hat sie nicht die Chance einer Umorientierung, denn ebenso wie Marcel Wedderkopp der Cousin von Corinna ist, sind Botho und Käthe als Cousin und Cousine nah miteinander verwandt. Die Oberflächlichkeit der ungeliebten Protagonistin könnte aber in der eben beschriebenen Komplexität ihre Ursachen haben.

Von natürlicher Textur war Käthe von Sellenthin wohl nie. Aber so wie sie sich gegen Ende des Romans präsentiert, ist sie durchaus ein Produkt der Verhältnisse, was sie übrigens mit Lene Nimptsch gemeinsam hat, die in einer Beziehung vor Botho schon der Sehnsucht nach Einfachheit entsprochen, einschlägige Rede- und Handlungsweisen kultiviert und fast zur Perfektion gebracht hat. Käthe kann da nicht mithalten. Ihr ist der Volkston nicht in die Wiege gelegt. So hat sie zwei Dinge vervollkommnet: Die nichtssagende Causerie in Gesellschaft und, was leicht übersehen wird, die wohlgesetzte Pointe. Beides wendet sie nun auf ihren Ehemann an, so wie sich Lene auf Grund ihrer Erfahrungen mit Männern jeder Albernheit., die vielleicht andere durchaus zu schätzen wissen, entledigt hat. Es geht hier bei Botho von Rienäcker um ein Abtasten, was bei diesem Mann eigentlich ankommt. (Bratkartoffelverhältnis? Theatermuffel? etc)

Man könnte Käthes Sprechweise als "argumentatorisches Florett" charakterisieren:

"Käthe freute sich, unter Händeklatschen, dieser prächtig freien Aussicht, umarmte die Mama, küßte Botho und wies dann plötzlich (!) nach links hin, wo zwischen vereinzelten Pappeln und Weiden ein Schindelturm sichtbar wurde. "Sieh, Botho, wie komisch. Es ist ja wie dreimal eingeknickt. Und das Dorf daneben. Wie heißt es?"
"Ich glaube, Wilmersdorf",stotterte Botho.
"Nun gut, Wilmersdorf. Aber was heißt das! 'Ich glaube'. Du wirst doch noch wissen, wie die Dörfer hier herum heißen..."

An anderer Stelle lesen wir: "Und sieh nur den Brotwagen da mit dem vorgespannten Hund. Es ist doch zu komisch." Käthe erwähnt diese Nebensächlichkeit wohl nicht ohne Kalkül. Ein Zughund hat durchaus in ihrer (komischen) Welt einen Platz im Gegensatz zu der eng abgegrenzten Welt Bothos , wo es nur Zugpferde, allenfalls Zugochsen gibt! All diese Beobachtungen lassen doch Zweifel an der Oberflächlichkeit Käthe von Sellenthins aufkommen. Sie ist keine fünfzehn oder siebzehn mehr, musste möglichst rasch verheiratet werden, da sie andernfalls ein gesellschaftliches Problem darstellen würde. Botho steckt auch bezüglich seiner Ehe in einer Zwangslage, die durch die gesellschaftlichen Finessen keineswegs gemildert wird.

Käthes Kur in Schlangenbad soll dazu dienen, ihre Empfängnisbereitschaft zu erhöhen. Auch dieser Sachverhalt wird bei Fontane nicht sonderlich explizit gemacht, und schon gar nicht wird der Verdacht geäußert, dass eine Zeugungsunfähigkeit von Seiten Bothos gemeint sein könnte. Dennoch: Auch aus der Beziehung mit Lene Nimptsch ist ja kein Nachwuchs entstanden, trotz der (un)redlichen Bemühungen der Wirtschaft von Hankel's Ablage. Ja, es ist sogar Schlimmeres zu befürchten, nämlich dass Bothos Interesse für Frauen allgemein sehr gering ist. Das war zu der Zeit, in der der Roman spielt, ein kriminelles Delikt. In ihrer Verlogenheit hofft die wilhelminische Gesellschaft gleichzeitig, dass ein Kurschatten in die Bresche springt. Ob jedoch Mr. Armstrong aushelfen kann, sei einmal dahingestellt.

Käthe von Sellenthin und Lene Nimptsch treffen sich nur einmal, erstere allerdings in Begleitung ihres Mannes. Dass Lene ihren ehemaligen Liebhaber, und gleichzeitig ihr Gegenbild getroffen hat, wird nirgendwo betont. Also könnte auch die Sellenthin, ebenfalls Gegenbild zu Botho, bei Lene den nachfolgenden Nervenzusammenbruch ausgelöst haben. Lene und Käthe, das wäre im Sinne moderner Fernsehserienromantik eine Option.

Es wird immer wieder festgestellt, dass Käthe fast alles, dessen sie ansichtig wird, als "komisch" spezifiziert. Damit bezeichnet sie alles, was nicht in ihre und vor allem Bothos Lebensspäre, in ihre aktuelle Lage also, passt und das aus diesem Grund komisch erscheinen muss. Komisch ist aber auch gemäß der überkommenen Dramentheorie alles, was nicht tragisch, weil niederen Standes ist. Auf diese Weise macht Käthe durchaus dort weiter, wo Lene aufgehört und keinen Erfolg gehabt hat. Botho hat eigentlich immer noch kein Gefühl für das Ständische weder für das eigene noch das ärmerer Schichten, und so erst gerät das "Komisch" zur reinen Floskel.

Der Hund, der dem Bäcker oder dem Milchmann das Zugpferd ersetzen muss, ist ebenso ein Statussymbol wie die adlige Kutsche, nur eben komisch, das heißt von einfachem Stand. Es ist daher eigentlich ganz im Sinne von Fontanes Realismus, wenn da so vieles komisch ist. Käthes Beredsamkeit bleibt Botho aber ebenso ein Rätsel wie Lenes bedeutsames Schweigen. Für Lene wäre der Zughund ein unverbrüchlicher Bestandteil ihrer Lebenswelt und keiner besonderen Erwähnung würdig. Lene besticht durch ihre sprechenden Handlungen, z.B.: "Er wollte noch weiter sprechen, aber im selben Augenblicke kam Lene mit einem Kaffeebrett zurück, auf dem eine Karaffe mit Wasser samt Apfelwein stand, Apfelwein, für den der Baron, weil er ihm wunderbare Heilkraft zuschrieb, eine sonst schwer begreifliche Vorliebe hatte."

Käthe hätte hier sicherlich von einem komischen Getränk und einer komischen Karaffe gesprochen. Lene schweigt. Diese Szene ist wohl unter dem Aspekt zu sehen, dass Botho von Rienäckers Fmilie insolvent ist. Lene führt durchaus Dinge vor, mit denen sich, unter bürgerlichen Gesichtspunkten Geld verdienen lassen müsste, mit verdünntem Apfelsaft vielleicht. Jedenfalls spricht hier wieder der Apotheker Fontane. Botho braucht nur etwas zu sagen, und eine ganze Maschinerie, die Dörr'sche Gärtnerei, Lenes Arbeitskraft, sowie die weisen Ratschläge der Mutter Nimptsch stehen Botho zur Verfügung.

Am Ende führt Käthe ihrem Ehemann dessen verpasste Chancen vor, und zwar immer wenn sie etwas komisch findet. Dass spätestens nach der Restauration auch der Adel mit bürgerlichen Betätigungen Geld verdient, ist etwas, was in den Kopf Bothos und einiger seiner Freunde nicht hineinwill.


Dienstag, 12. August 2008

Theodor Fontane: Unwiederbringlich

Die Entstehung des Romans "Unwiederbringlich" stimmt zeitlich mit dem Tod Ludwigs II von Bayern überein, vor allem, wenn man den Brief der Julie vn Dobschütz am Schluß betrachtet. In der Zeitgeschichte wie im Roman ertrinkt jemand unter ungeklärten Umständen. War es Selbstmord, Mord? War Gift im Spiel? Die Antwort liegt im Roman bei dem Leser, vielleicht auch beim Interpreten. Am Anfang des Romans liest sich alles ganz anders. Und von Tränen kann vor der Hand nicht die Rede sein.

Der Roman "Unwiederbringlich" von Theodor Fontane ist zunächst mal eine George-Dandin-Geschichte auf allerhöchstem Niveau, wenn der Leser, bzw. die Leserin nicht der feministischen Richtung zuzurechnen ist und von vornherein kein gutes Haar an einem der Protagonisten, dem Grafen Helmuth von Holk, lassen möchte, so wie das bei der Gräfin Christine festzustellen ist. Bei dem Agens, das letzten Endes die Säkularisierung einer Ehe bewirken kann, handelt es sich bei Fontane nicht um einen Galan in Mantel und Degen, sondern um eine geheimnisvolle, religiöse Kraft, der im Prinzip auch der Ehemann nachstrebt. Bei der Geschichte von Georges Dandin handelt es sich indessen um eine Komödie, allerdings eine Komödie von Molière , dessen Dramatik vielfach hart an der Tragik vorbeischrammt.

Eine weitere Parallele zur eben beschriebenen Komödie ist die Unterstützung der Gräfin Christine Holk durch ihre Familie, verkörpert durch ihren ehelosen Bruder, dem Baron Alfred Arne. Dabei ist nicht zu übersehen, dass der Graf Holk im Gegensatz zu Georges Dandin, nach unten geheiratet hat und auch nicht um des Reichtums willen, während der bürgerliche Georges Dandin nur des Geldes wegen eine Adlige gefreit hat. Dass die Gräfin Christine nicht so unschuldig ist, wie es immer scheinen mag, zeigt sich nicht zuletzt in ihrer Stellung zu den letzten Dingen, versinnbildlicht durch das Familiengrab, das vollkommen heruntergekmmen ist und einzustürzen droht, was für eine Trauergemeinde noch im Diesseits lebensbedrohlich werden kann. Festgestellt wird dies aber nicht von dem Grafen, der Gräfin, einem Geistlichen oder einem Diener, sondern von den beiden halbwüchsigen Mädchen, Asta, die Tochter Holks, und Elisabeth, der Enkelin von Pastor Petersen, bei einem ihrer Jeux interdits. Die beiden wundern sich sehr. Noch am Ende des Romans ist bezüglich der Neugestaltung mit gotischem Dekor nichts geschehen, obwohl doch die Gräfin praktisch allein das Regiment führt, so dass sie neben der Gruft bestattet werden muss.

Es stellt sich daher durchaus die Frage, wer den dargestellten Pietismus eigentlich verkörpert, Christine oder Helmuth. Pietismus war, vor allem im 17. und 18. Jahrhundert, eine religiöse Bewegung innerhalb des Protestantismus, die aus verschiedenen Quellen gespeist war, unter anderem auch aus evangelisch-reformierten. Der aus einer Hugenottenfamilie stammende Fontane (eigentlich: Henri Théodore Fontane) gehörte bis zu seinem Tod der französisch-reformierten Gemeinde in Berlin an und hatte wohl schon aus diesem Grund Sympathien für die pietistische Regel, dass sich die Erlösung im Jenseits bereits zu Lebzeiten in einem gewissen Wohlstand äußere. Dass, wie bisweilen festgestellt wurde, Fontane wenig religiös war, kann aus all dem nicht abgeleitet werden, auch nicht eine lutherische Ausrichtung der preußischen Monarchie. Seit Friedrich dem Großen pflegte man die Union, eine Synthese aus Luthertum und Calvinismus, was durchaus eine lutherische Ausrichtung einzelner Individuen und Gruppen nicht ausschließt. Die skandinavischen und schleswig-holsteinischen Protestanten sind meist Lutheraner, wobei Holk voll und ganz pietistischen Vorstellungen entspricht. Dadurch hat er sich ein gutes Stück in Richtung Calvinismus bewegt. Darüberhinaus versteht es der Pietismus, soweit er noch bis in spätere Epochen fortbesteht, die Forderung nach einem positiven Lebenswandel mit prostitutiven Elementen zu verquicken, was letzten Endes die Kopenhagen-Abenteuer des Grafen Holk, aber auch die angestrebte öffentliche Erziehung der Kinder motiviert. In der höfischen Umgebung gelingt es so dem Grafen, seine Umwelt für sich einzunehmen, auch wenn seine offensichtliche Suche nach der "schönen Seele" an dem als lasterhaft verschrienen Hof in jeder Hinsicht obsolet erscheint. Letzten Endes sieht er die "schöne Seele" in jeder Frau, um hier einmal Goethe in's Spiel zu bringen.

Dass der deutsch-dänische Krieg bevorsteht, beeindruckt den Grafen Holk in seiner Pflichterfüllung nicht wirklich, auch wenn er sich dadurch in dänisch-nationalen Kreisen der Gefahr aussetzt, als Deutscher gekennzeichnet zu werden. Böse gemeint sind die einschlägigen Anspielungen ohnehin nur selten. Allerdings gibt es auch eine Zeit nach dem Krieg mit der Aussicht, als Diplomat am gleichen Ort tätig werden zu können. Mit Leichtlebigkeit und Unbekümmertheit hat das recht eigentlich wenig zu tun.

Es schwingt wohl viel von der Prädestinationslehre mit, wenn beim Einsetzen der Erzählung die Würfel im Hinblick auf das Ende des Romans bereits gefallen sind. Die Fronten sind verhärtet. Christine übt verstärkt argumentatorischen Druck auf ihren Mann aus, zum einen durch ihre Beziehung zu dem Fräulein von Dobschütz, mit der sie in einer Art lesbisch-alternativen Ehe zusammenhaust, zum anderen durch Schuldzuweisungen an ihren Ehemann und durch Vorwürfe, die seinen angeblich (oder auch konkret) schlechten Charakter untermauern sollen. Holk ist allerdings nicht bereit, etwa so wie Jonathan Swifts Gulliver in Christine die unnahbare Pfededame zu verehren und infolgedessen auch nicht, irgendwelche Yahoos zu fliehen, die bei Fontane recht zivilisiert als gesellschaftliche Wesen und in mancherlei Form auftreten. Das geschieht, um nicht als Robinson auf einer einsamen Insel und das umgeben von vielen Menschen zu erscheinen.

In der Beziehung zu Ebba indessen schlägt der Georges Dandin in Holk zurück, was in dieser Form bei Molière nicht vorgeprägt ist. Im Lichte des Luthertums in Verbindung mit der aufkommenden Psychoanalyse ist der Fehltritt bzw. der angebliche Fehltritt als Akt der Befreiung zu interpretieren, als die Befreiung des Christenmenschen von einem Über-Ich, das bei Fontane in Gestalt des Schwagers auftritt. Dabei ist, wie bei F. üblich, nichts über den sinnlichen Gehalt des Ehebruchs ausgesagt. Von allen fontaneschen Figuren traut man Holk allerdings die Befriedigung der Fleischeslust am ehesten zu und darüberhinaus auch noch einen "Hang zum Küchenpersonal", das in "Unwiederbringlich" Holk als Brigitte Hansen oder als Karin entgegentritt.

Dass Holk in der Beziehung zu Ebba in Wirklichkeit seinen Schwager bekämpft, ist ein starkes Motiv für deren Ablehnung des Heiratsantrages. Ebba ist sich wohl bewusst, dass das Problem Holks nicht eigentlich in seiner Ehe begründet liegt. Er hat seine Frau ja schließlich vor Jahren geheiratet und zwei fast erwachsene Kinder mit ihr. Trotz einiger Liberalität oder gerade wegen dieser ist es ausgesprochen schwierig zu urteilen, Holk hätte Christine überhaupt nicht heiraten sollen.

Vom Tod der Gräfin Holk erfährt der Leser aus dem abschließenden Brief der Julie von Dobschütz an den Superintendenten Schwarzkoppen. Darin ist von einer Art Selbstmord die Rede, dem allerdings eine Geisteskrankheit zu Grunde liegen muss, soll der Dahingeschiedenen dennoch ein christliches Angedenken zu Teil werden. Aus der Beerdigung sind keine Rückschlüsse möglich. Der 80jährige Pfarrer Petersen ist zwar anwesend, sagt aber kein Wort. Der Leser ist durchaus gehalten, im Vergleich mit Goethe's Werther ("Handwerker trugen ihn") seine eigenen Schlüsse zu ziehen. Julie von Dobschütz tritt als Anwältin ihrer Freundin auf, und der Brief ist eine Art Plädoyer. Danach erscheint überhaupt der Roman in einem ganz anderen Licht: Als die Erzählung einsetzt, ist die Gräfin bereits von einer beginnenden Gemütskrankheit gezeichnet, die vom Baron Alfred Arne in einem seiner ersten Briefe nach Kopenhagen heruntergespielt wird. Mit dem zunehmenden Erzähltempo verschlimmert sich auch die Krankheit, bis am Ende nicht einmal die intimste Freundin Julie von Dobschütz Christine zu erreichen vermag. Die Krankheit ist durch das Nicht-vergessen-Können charakterisiert. Es stellt sich die Frage, was genau sie nicht vergessen kann. Namentlich bei Fontane sind die Interpreten immer schnell mit einer eindimensionalen Beurteilung bei der Hand, so dass nur der Ehebruch als Auslöser für das seelische Ungleichgewicht in Frage kommt. Dass Christine die Heirat nicht vergessen kann und aus diesem Grunde versucht, diese zu wiederholen, wirft ein weitaus milderes Licht auf die Gemütskranke. Einen der letzten lichten Momente erlebt Christine bei der Wiedervermählung., wo sie sich noch während der Zeremonie wie selbstverständlich an Holk wendet. Sie freut sich über die vielen erschienenen Hochzeitsgäste, die sie für eine Heilige halten, was sie aber bestreitet.

Der personale Erzähler verschafft hier dem Leser durchaus einen Informationsvorsprung, und Fontane ist als dessen Urheber diesem ausgesprochen nahe, wenn immer auch Rezepte für allerlei Tees etc. zur Hand sind. Der Autor verleugnet seine berufliche Herkunft als Apotheker keineswegs. Auch die auffällig genauen Beschreibungen von Gärten stehen in diesem Zusammenhang. Fontane stellt sich damit durchaus auf die Seite derjenigen, die psychische Erkrankungen medikamentös behandeln wollen. Die durchaus kritikwürdige Ruhigstellung mit der pharmazeutischen Keule kennt er aber (noch) nicht. (Vergl. Goethe's Wilhelm Meister, wo der Wahnsinn des Harfners ebenfalls bereits behandelbar erscheint.)

Es ist wohl auch so, dass Christine Holk eine überaus delikate Sublimierung der Grete Minde darstellt. Dass diese, durchaus das Urbild einer Terroristin, vom Irrsin gezeichnet ist, spricht der Erzähler dieser Novelle offen aus, was durchaus einen Erlösungs- und Sühnegedanken beinhaltet. Nachdem Ebba Rosenberg offensichtlich auch die Krankheit der Christine Holk durchschaut, ist ihre Ablehnung doppelt motiviert. Wie Ebba nach Holks Weggang schluchzend in die Kissen fällt, erspart Fontane seinem Lesepublikum ebenso wie frivole Anzüglichkeiten. Ausgespart wird jedoch nicht die dritte Hochzeit Christines, die in Form ihrer Beerdigung stattfindet.

Möglicherweise stellt es auch die höchste Kunst des Erzählens dar, wenn beim Leser Tränen fließen, zumal wenn die diesbezügliche Protagonistin recht eigentlich nicht das Objekt der Sympathielenkung gewesen ist. Denn für die rigiden Positionen von Christine Holk kommt an keiner Stelle Verständnis auf, höchstens eine rational motivierte Zustimmung, weil das Propagierte im kulturellen und auch religiösen Sinn kathegorischer Imperativ ist.

Auch die Struktur ist in "Unwiederbringlich" durchaus aufschlussreich. Abgesehen von den hin- und hergehenden Briefen spielt die Handlung nur am Anfang und ganz am Ende auf Schloss Holkenäs. Die Geschichte von der Ablehnung von Holks Werben durch Ebba bis zum Tod der Gräfin Christine nimmt nur eben mal ein Fünftel des Romans ein. Kaum länger ist die von dessen Anfang bis zur Abreise Holks nach Kopenhagen. Das heißt: Drei Fünftel des Romans spielen in Dänemark und handeln von Holks Mission bei der Prinzessin. Auch dieser Aufenthalt ist nicht unstrukturiert. Eine wichtige Zäsur stellt die Übersiedlung nach Schloss Fredriksborg dar. Auf Grund der ursprünglichen Planung wird klar, dass Holk seine Mission auf Fredriksborg wird beenden müssen. Die Brandkatastrophe jedoch stürzt nicht zuletzt die Handlung in's Chaos, zumindest im Vergleich zum bisherigen sehr behäbigen Fortgang. Nun überschlagen sich die Ereignisse.

Dass das letzte Fünftel des Romans drei ganze Jahre abdeckt und die Geschichte bis dahin nur wenige Monate, überrascht bei F. nicht. Jedenfalls ergibt sich die Konsequenz, dass die zweite Hochzeit und der Tod Christines, anders als bei der konkreten Vorlage zur Geschichte, doch einige Monate auseinanderliegen. Ebenso wie Hilde in Ellernklipp noch eine Chance zur Besserung im Diesseits bekommt, gewährt das Schicksal auch Christine die Möglichkeit, sich mit ihrer Umgebung auszusöhnen, was den Roman doch noch aus der Hoffnungslosigkeit herausführt.