Sonntag, 31. August 2008

Der strategische Tod bei Fontane

In der Tragödie, so heißt es irgendwo, sind am Ende alle tot, die tot sein müssen. Bei Theodor Fontane ist das nicht so einfach, ein weites Feld. In "Irrungen, Wirrungen" sind am Ende nicht alle tot. Obwohl dieser Roman nichts nehr ist als tragisch, stirbt nur die Mutter Nimptsch, die ohnehin der Generation angehört, bei der der Tod, formallogisch gesehen, keineswegs etwas Bemerkenswertes darstellt. Es entspricht dem Lauf der Dinge, obwohl es keinen Leser gibt, der nicht tief gerührt wäre. Dennoch handelt es sich um einen strategischen Tod oder vielleicht auch gerade deswegen. Mit dem strategischen Tod versucht der Autor zu verhindern, dass sich eine Figur im Nichts verliert. So ist die Mutter Nimptsch die einzige Figur in diesem Roman, die in ihrer Endlichkeit abgeschlossen erscheint. Mit 70 Jahren ist der Tod auch in Fontanes Romanwelt nicht von Zwangsläufigkeit. Es gibt da auch wesentlich Ältere, den Pastor Petersen in "Unwiederbringlich" oder die Domina in "Grete Minde".

Die übrigen Hauptfiguren des Romans werden in die Ungewissheit entlassen. Der weiterdenkende Leser sieht, wie Käthe von Sellenthin/Rienäcker den von der Familie ersehnten Stammhalter bringt, wird aber gleichzeitig den Verdacht nicht loswerden, der Urheber sei irgendeine "komische" Figur niederen Standes. Botho von Rienäcker, der im Grunde kaum Interesse an Frauen hat, wird sich damit arrangieren und an der Ehe festhalten. Gideon Franke wird wohl nicht Lenes letztes Experiment in Sachen Männer sein. Ob sich Lene und Gideon eine Scheidung werden leisten können? Man würde es Lene Nimptsch wünschen, war doch das Arrangement der Hochzeit durch den Sektierer nur zu entwürdigend.

Auch Effi Briests Tod ist trotz der Tränen, die der Leser dabei vergießen mag, ein rein strategischer. Fontane "nutzt" ihn zur Bestätigung seiner Sympathielenkung, die Geert von Innstetten als eine Figur ohne rechte Liebe darstellt. Die Meinung einer Figur, die auf den Tod darniederliegt, kann nicht Lüge sein und muss Bestand haben. Geert von Innstettens Ruf als der Piefke, Preuße oder, wenn man selbst im Lande hockt, Hundertfuffzigprozentige ist somit besiegelt. Eine Kritik am Staat an sich ist aus diesem Faktum eigentlich nicht abzulesen.

Auch der Tod der Christine Holk in "Unwiederbringlich" ist in gewisser Weise strategisch. Zwar hat die Figur bei ihrem Ende die Grenzen ihrer Möglichkeiten erreicht. Jedoch würde die Darstellung, wie die alles in allem sympathische geistig Umnachtete von ihrer Familie liebevoll gepflegt wird, zu viele wilhelminische Konventionen sprengen, da ja sicherlich auch - nach dem deutsch-dänischen Krieg - alle KopenhagenerBekannten, inklusive Ebba mit Ehemann zu Besuch kommen müssten. Mal ganz abgesehen von dem enormen Kitschfaktor würde selbst den von Thomas Mann her bekannte Romanumfang sprengen und trotzdem michts Wesentliches mehr beitragen. Zudem wäre die funktionslose Darstellung von Krankheit Naturalismus, den Fontane ablehnte.

Nicht strategisch ist indessen in "Stine" der Tod von Waldemar von Haldern. Er ist vielmehr notwendig, wenn auch nicht eigentlich tragisch. Der Protagonist übersieht den Ausweg, wegen seiner Kiegsverletzung gar nicht standesgemäß heiraten zu können und infolgedessen eine kameradschaftliche Ehe eingehen zu dürfen. Der Selbstmord des Grafen ist für Fontanes Verhältnisse ziemlich eingehend und auch eindeutig beschrieben. Alles andere entspräche nicht von Halderns Charakter.

Der einzige Roman Fontanes, in dem überhaupt niemand stirbt, der also ohne strategischen oder nicht strategischen Tod auszukommen scheint, ist "Frau Jenny Treibel" . Das heißt natürlich zunächst einmal, dass sämtliche Personen nicht definiert im Sinne von endlich sind. Selbst der vor Beginn der Erzählung bereits verstorbene Wachtmeister Schmolcke wird in das open end hineingezogen. Da man bei Fontane ja oft nicht immer mit letzter Gewissheit erkennen kann, was geschehen ist, sind Aussagen bezüglich der Zukunft noch viel weniger zu treffen. Zum Zeitpunkt des Romanendes von "Stine" lebt die Titelheldin noch, und ihr Ihrem-Geliebten-Nachsterben ist vor der Hand noch reine Spekulation, und auch dass Leopold Treibel Hildegard Munk heiraten wird, ist nach der Maßgabe, dass man Verlobungen auch auflösen kann, - im Falle der Beziehung mit Corinna zeigt sich das überdeutlich - mit einem dicken Fragezeichen zu versehen. Darüberhinaus kann bereits über eine beginnende oder mögliche Lungenkrankheit Leopolds spekuliert werden, jedoch ist eine Diagnose nicht Teil des Romans.

Der Leser gewinnt in "Frau Jenny Treibel" den Eindruck, dass durchaus der Tod bereits über der ganzen Szene schwebt. Das liegt zum einen an der Vielzahl der auftretenden Personen und der Knappheit der erzählten Zeit, die, von der Überbringung der Einladung an Willibald Schmidt durch die Protagonistin bis zur Hochzeit Corinnas gerade mal eben zwei Monate umfasst. Der Tod als Sensenmann wäre innerhalb dieses Rahmens mit dem Realismus Fontanes kaum vereinbar. Allerdings ist hiermit auch der erzählerische Rahmen für Fontanes Werk bis hin zum "Stechlin" abgesteckt.

Marcell und Corinna Wedderkopp sollen, so will es jedenfalls die Karriere und die Planung Willibald Schmidts gemeinsam zu wissenschaftlichen Grabungen aufbrechen, was nicht immer ohne Risiken für Leib und Leben ist. Recht stabil erscheint indessen der Kommerzienrat Treibel, obwohl man diesem den Tod in den nächsten zehn Jahren voraussagt.

Freitag, 22. August 2008

Warum kommt Käthe von Sellenthin immer so schlecht weg?

Wenn man den kleinen Roman "Irrungen, Wirrungen" eingehender betrachtet, stellt man fest, dass die Beziehung, genauer gesagt die eheliche Beziehung zwischen Botho von Rienäcker und Käthe von Sellenthin etwa die Hälfte des Erzählten einnimmt, d.h. die zweite Hälfte. Die beiden kannten sich durchaus von früher her, und man muss bei jeder Analyse einbeziehen, dass dieses Früher Auswirkungen auf das Hier und Jetzt gehabt haben könnte. Wenn Käthe etwas dalbrig ist, so liegt das nicht nur in ihren Genen, sondern ist möglicherweise ein Produkt der Erziehung oder der gesellschftlichen Einflüsse.

Fontane lässt den Leser über das Früher und vor allem über dessen Ausmaß im Unklaren. Wie derartiges aussieht, erfahren wir zum Beispiel im ersten Kapitel von Grete Minde. War dem auch in der Beziehung zwischen Botho und Käthe so, haben das Leben bzw. die Gesellschaft Käthe von Sellenthin ganz übel mitgespielt, indem sie aus taktischen Gründen eine Ehe eingehen soll, mit einem Mann, zu dem ihre Beziehung beendet, die Liebe erloschen ist. Anders als Corinna Schmidt in Frau Jenny Treibel hat sie nicht die Chance einer Umorientierung, denn ebenso wie Marcel Wedderkopp der Cousin von Corinna ist, sind Botho und Käthe als Cousin und Cousine nah miteinander verwandt. Die Oberflächlichkeit der ungeliebten Protagonistin könnte aber in der eben beschriebenen Komplexität ihre Ursachen haben.

Von natürlicher Textur war Käthe von Sellenthin wohl nie. Aber so wie sie sich gegen Ende des Romans präsentiert, ist sie durchaus ein Produkt der Verhältnisse, was sie übrigens mit Lene Nimptsch gemeinsam hat, die in einer Beziehung vor Botho schon der Sehnsucht nach Einfachheit entsprochen, einschlägige Rede- und Handlungsweisen kultiviert und fast zur Perfektion gebracht hat. Käthe kann da nicht mithalten. Ihr ist der Volkston nicht in die Wiege gelegt. So hat sie zwei Dinge vervollkommnet: Die nichtssagende Causerie in Gesellschaft und, was leicht übersehen wird, die wohlgesetzte Pointe. Beides wendet sie nun auf ihren Ehemann an, so wie sich Lene auf Grund ihrer Erfahrungen mit Männern jeder Albernheit., die vielleicht andere durchaus zu schätzen wissen, entledigt hat. Es geht hier bei Botho von Rienäcker um ein Abtasten, was bei diesem Mann eigentlich ankommt. (Bratkartoffelverhältnis? Theatermuffel? etc)

Man könnte Käthes Sprechweise als "argumentatorisches Florett" charakterisieren:

"Käthe freute sich, unter Händeklatschen, dieser prächtig freien Aussicht, umarmte die Mama, küßte Botho und wies dann plötzlich (!) nach links hin, wo zwischen vereinzelten Pappeln und Weiden ein Schindelturm sichtbar wurde. "Sieh, Botho, wie komisch. Es ist ja wie dreimal eingeknickt. Und das Dorf daneben. Wie heißt es?"
"Ich glaube, Wilmersdorf",stotterte Botho.
"Nun gut, Wilmersdorf. Aber was heißt das! 'Ich glaube'. Du wirst doch noch wissen, wie die Dörfer hier herum heißen..."

An anderer Stelle lesen wir: "Und sieh nur den Brotwagen da mit dem vorgespannten Hund. Es ist doch zu komisch." Käthe erwähnt diese Nebensächlichkeit wohl nicht ohne Kalkül. Ein Zughund hat durchaus in ihrer (komischen) Welt einen Platz im Gegensatz zu der eng abgegrenzten Welt Bothos , wo es nur Zugpferde, allenfalls Zugochsen gibt! All diese Beobachtungen lassen doch Zweifel an der Oberflächlichkeit Käthe von Sellenthins aufkommen. Sie ist keine fünfzehn oder siebzehn mehr, musste möglichst rasch verheiratet werden, da sie andernfalls ein gesellschaftliches Problem darstellen würde. Botho steckt auch bezüglich seiner Ehe in einer Zwangslage, die durch die gesellschaftlichen Finessen keineswegs gemildert wird.

Käthes Kur in Schlangenbad soll dazu dienen, ihre Empfängnisbereitschaft zu erhöhen. Auch dieser Sachverhalt wird bei Fontane nicht sonderlich explizit gemacht, und schon gar nicht wird der Verdacht geäußert, dass eine Zeugungsunfähigkeit von Seiten Bothos gemeint sein könnte. Dennoch: Auch aus der Beziehung mit Lene Nimptsch ist ja kein Nachwuchs entstanden, trotz der (un)redlichen Bemühungen der Wirtschaft von Hankel's Ablage. Ja, es ist sogar Schlimmeres zu befürchten, nämlich dass Bothos Interesse für Frauen allgemein sehr gering ist. Das war zu der Zeit, in der der Roman spielt, ein kriminelles Delikt. In ihrer Verlogenheit hofft die wilhelminische Gesellschaft gleichzeitig, dass ein Kurschatten in die Bresche springt. Ob jedoch Mr. Armstrong aushelfen kann, sei einmal dahingestellt.

Käthe von Sellenthin und Lene Nimptsch treffen sich nur einmal, erstere allerdings in Begleitung ihres Mannes. Dass Lene ihren ehemaligen Liebhaber, und gleichzeitig ihr Gegenbild getroffen hat, wird nirgendwo betont. Also könnte auch die Sellenthin, ebenfalls Gegenbild zu Botho, bei Lene den nachfolgenden Nervenzusammenbruch ausgelöst haben. Lene und Käthe, das wäre im Sinne moderner Fernsehserienromantik eine Option.

Es wird immer wieder festgestellt, dass Käthe fast alles, dessen sie ansichtig wird, als "komisch" spezifiziert. Damit bezeichnet sie alles, was nicht in ihre und vor allem Bothos Lebensspäre, in ihre aktuelle Lage also, passt und das aus diesem Grund komisch erscheinen muss. Komisch ist aber auch gemäß der überkommenen Dramentheorie alles, was nicht tragisch, weil niederen Standes ist. Auf diese Weise macht Käthe durchaus dort weiter, wo Lene aufgehört und keinen Erfolg gehabt hat. Botho hat eigentlich immer noch kein Gefühl für das Ständische weder für das eigene noch das ärmerer Schichten, und so erst gerät das "Komisch" zur reinen Floskel.

Der Hund, der dem Bäcker oder dem Milchmann das Zugpferd ersetzen muss, ist ebenso ein Statussymbol wie die adlige Kutsche, nur eben komisch, das heißt von einfachem Stand. Es ist daher eigentlich ganz im Sinne von Fontanes Realismus, wenn da so vieles komisch ist. Käthes Beredsamkeit bleibt Botho aber ebenso ein Rätsel wie Lenes bedeutsames Schweigen. Für Lene wäre der Zughund ein unverbrüchlicher Bestandteil ihrer Lebenswelt und keiner besonderen Erwähnung würdig. Lene besticht durch ihre sprechenden Handlungen, z.B.: "Er wollte noch weiter sprechen, aber im selben Augenblicke kam Lene mit einem Kaffeebrett zurück, auf dem eine Karaffe mit Wasser samt Apfelwein stand, Apfelwein, für den der Baron, weil er ihm wunderbare Heilkraft zuschrieb, eine sonst schwer begreifliche Vorliebe hatte."

Käthe hätte hier sicherlich von einem komischen Getränk und einer komischen Karaffe gesprochen. Lene schweigt. Diese Szene ist wohl unter dem Aspekt zu sehen, dass Botho von Rienäckers Fmilie insolvent ist. Lene führt durchaus Dinge vor, mit denen sich, unter bürgerlichen Gesichtspunkten Geld verdienen lassen müsste, mit verdünntem Apfelsaft vielleicht. Jedenfalls spricht hier wieder der Apotheker Fontane. Botho braucht nur etwas zu sagen, und eine ganze Maschinerie, die Dörr'sche Gärtnerei, Lenes Arbeitskraft, sowie die weisen Ratschläge der Mutter Nimptsch stehen Botho zur Verfügung.

Am Ende führt Käthe ihrem Ehemann dessen verpasste Chancen vor, und zwar immer wenn sie etwas komisch findet. Dass spätestens nach der Restauration auch der Adel mit bürgerlichen Betätigungen Geld verdient, ist etwas, was in den Kopf Bothos und einiger seiner Freunde nicht hineinwill.


Dienstag, 12. August 2008

Theodor Fontane: Unwiederbringlich

Die Entstehung des Romans "Unwiederbringlich" stimmt zeitlich mit dem Tod Ludwigs II von Bayern überein, vor allem, wenn man den Brief der Julie vn Dobschütz am Schluß betrachtet. In der Zeitgeschichte wie im Roman ertrinkt jemand unter ungeklärten Umständen. War es Selbstmord, Mord? War Gift im Spiel? Die Antwort liegt im Roman bei dem Leser, vielleicht auch beim Interpreten. Am Anfang des Romans liest sich alles ganz anders. Und von Tränen kann vor der Hand nicht die Rede sein.

Der Roman "Unwiederbringlich" von Theodor Fontane ist zunächst mal eine George-Dandin-Geschichte auf allerhöchstem Niveau, wenn der Leser, bzw. die Leserin nicht der feministischen Richtung zuzurechnen ist und von vornherein kein gutes Haar an einem der Protagonisten, dem Grafen Helmuth von Holk, lassen möchte, so wie das bei der Gräfin Christine festzustellen ist. Bei dem Agens, das letzten Endes die Säkularisierung einer Ehe bewirken kann, handelt es sich bei Fontane nicht um einen Galan in Mantel und Degen, sondern um eine geheimnisvolle, religiöse Kraft, der im Prinzip auch der Ehemann nachstrebt. Bei der Geschichte von Georges Dandin handelt es sich indessen um eine Komödie, allerdings eine Komödie von Molière , dessen Dramatik vielfach hart an der Tragik vorbeischrammt.

Eine weitere Parallele zur eben beschriebenen Komödie ist die Unterstützung der Gräfin Christine Holk durch ihre Familie, verkörpert durch ihren ehelosen Bruder, dem Baron Alfred Arne. Dabei ist nicht zu übersehen, dass der Graf Holk im Gegensatz zu Georges Dandin, nach unten geheiratet hat und auch nicht um des Reichtums willen, während der bürgerliche Georges Dandin nur des Geldes wegen eine Adlige gefreit hat. Dass die Gräfin Christine nicht so unschuldig ist, wie es immer scheinen mag, zeigt sich nicht zuletzt in ihrer Stellung zu den letzten Dingen, versinnbildlicht durch das Familiengrab, das vollkommen heruntergekmmen ist und einzustürzen droht, was für eine Trauergemeinde noch im Diesseits lebensbedrohlich werden kann. Festgestellt wird dies aber nicht von dem Grafen, der Gräfin, einem Geistlichen oder einem Diener, sondern von den beiden halbwüchsigen Mädchen, Asta, die Tochter Holks, und Elisabeth, der Enkelin von Pastor Petersen, bei einem ihrer Jeux interdits. Die beiden wundern sich sehr. Noch am Ende des Romans ist bezüglich der Neugestaltung mit gotischem Dekor nichts geschehen, obwohl doch die Gräfin praktisch allein das Regiment führt, so dass sie neben der Gruft bestattet werden muss.

Es stellt sich daher durchaus die Frage, wer den dargestellten Pietismus eigentlich verkörpert, Christine oder Helmuth. Pietismus war, vor allem im 17. und 18. Jahrhundert, eine religiöse Bewegung innerhalb des Protestantismus, die aus verschiedenen Quellen gespeist war, unter anderem auch aus evangelisch-reformierten. Der aus einer Hugenottenfamilie stammende Fontane (eigentlich: Henri Théodore Fontane) gehörte bis zu seinem Tod der französisch-reformierten Gemeinde in Berlin an und hatte wohl schon aus diesem Grund Sympathien für die pietistische Regel, dass sich die Erlösung im Jenseits bereits zu Lebzeiten in einem gewissen Wohlstand äußere. Dass, wie bisweilen festgestellt wurde, Fontane wenig religiös war, kann aus all dem nicht abgeleitet werden, auch nicht eine lutherische Ausrichtung der preußischen Monarchie. Seit Friedrich dem Großen pflegte man die Union, eine Synthese aus Luthertum und Calvinismus, was durchaus eine lutherische Ausrichtung einzelner Individuen und Gruppen nicht ausschließt. Die skandinavischen und schleswig-holsteinischen Protestanten sind meist Lutheraner, wobei Holk voll und ganz pietistischen Vorstellungen entspricht. Dadurch hat er sich ein gutes Stück in Richtung Calvinismus bewegt. Darüberhinaus versteht es der Pietismus, soweit er noch bis in spätere Epochen fortbesteht, die Forderung nach einem positiven Lebenswandel mit prostitutiven Elementen zu verquicken, was letzten Endes die Kopenhagen-Abenteuer des Grafen Holk, aber auch die angestrebte öffentliche Erziehung der Kinder motiviert. In der höfischen Umgebung gelingt es so dem Grafen, seine Umwelt für sich einzunehmen, auch wenn seine offensichtliche Suche nach der "schönen Seele" an dem als lasterhaft verschrienen Hof in jeder Hinsicht obsolet erscheint. Letzten Endes sieht er die "schöne Seele" in jeder Frau, um hier einmal Goethe in's Spiel zu bringen.

Dass der deutsch-dänische Krieg bevorsteht, beeindruckt den Grafen Holk in seiner Pflichterfüllung nicht wirklich, auch wenn er sich dadurch in dänisch-nationalen Kreisen der Gefahr aussetzt, als Deutscher gekennzeichnet zu werden. Böse gemeint sind die einschlägigen Anspielungen ohnehin nur selten. Allerdings gibt es auch eine Zeit nach dem Krieg mit der Aussicht, als Diplomat am gleichen Ort tätig werden zu können. Mit Leichtlebigkeit und Unbekümmertheit hat das recht eigentlich wenig zu tun.

Es schwingt wohl viel von der Prädestinationslehre mit, wenn beim Einsetzen der Erzählung die Würfel im Hinblick auf das Ende des Romans bereits gefallen sind. Die Fronten sind verhärtet. Christine übt verstärkt argumentatorischen Druck auf ihren Mann aus, zum einen durch ihre Beziehung zu dem Fräulein von Dobschütz, mit der sie in einer Art lesbisch-alternativen Ehe zusammenhaust, zum anderen durch Schuldzuweisungen an ihren Ehemann und durch Vorwürfe, die seinen angeblich (oder auch konkret) schlechten Charakter untermauern sollen. Holk ist allerdings nicht bereit, etwa so wie Jonathan Swifts Gulliver in Christine die unnahbare Pfededame zu verehren und infolgedessen auch nicht, irgendwelche Yahoos zu fliehen, die bei Fontane recht zivilisiert als gesellschaftliche Wesen und in mancherlei Form auftreten. Das geschieht, um nicht als Robinson auf einer einsamen Insel und das umgeben von vielen Menschen zu erscheinen.

In der Beziehung zu Ebba indessen schlägt der Georges Dandin in Holk zurück, was in dieser Form bei Molière nicht vorgeprägt ist. Im Lichte des Luthertums in Verbindung mit der aufkommenden Psychoanalyse ist der Fehltritt bzw. der angebliche Fehltritt als Akt der Befreiung zu interpretieren, als die Befreiung des Christenmenschen von einem Über-Ich, das bei Fontane in Gestalt des Schwagers auftritt. Dabei ist, wie bei F. üblich, nichts über den sinnlichen Gehalt des Ehebruchs ausgesagt. Von allen fontaneschen Figuren traut man Holk allerdings die Befriedigung der Fleischeslust am ehesten zu und darüberhinaus auch noch einen "Hang zum Küchenpersonal", das in "Unwiederbringlich" Holk als Brigitte Hansen oder als Karin entgegentritt.

Dass Holk in der Beziehung zu Ebba in Wirklichkeit seinen Schwager bekämpft, ist ein starkes Motiv für deren Ablehnung des Heiratsantrages. Ebba ist sich wohl bewusst, dass das Problem Holks nicht eigentlich in seiner Ehe begründet liegt. Er hat seine Frau ja schließlich vor Jahren geheiratet und zwei fast erwachsene Kinder mit ihr. Trotz einiger Liberalität oder gerade wegen dieser ist es ausgesprochen schwierig zu urteilen, Holk hätte Christine überhaupt nicht heiraten sollen.

Vom Tod der Gräfin Holk erfährt der Leser aus dem abschließenden Brief der Julie von Dobschütz an den Superintendenten Schwarzkoppen. Darin ist von einer Art Selbstmord die Rede, dem allerdings eine Geisteskrankheit zu Grunde liegen muss, soll der Dahingeschiedenen dennoch ein christliches Angedenken zu Teil werden. Aus der Beerdigung sind keine Rückschlüsse möglich. Der 80jährige Pfarrer Petersen ist zwar anwesend, sagt aber kein Wort. Der Leser ist durchaus gehalten, im Vergleich mit Goethe's Werther ("Handwerker trugen ihn") seine eigenen Schlüsse zu ziehen. Julie von Dobschütz tritt als Anwältin ihrer Freundin auf, und der Brief ist eine Art Plädoyer. Danach erscheint überhaupt der Roman in einem ganz anderen Licht: Als die Erzählung einsetzt, ist die Gräfin bereits von einer beginnenden Gemütskrankheit gezeichnet, die vom Baron Alfred Arne in einem seiner ersten Briefe nach Kopenhagen heruntergespielt wird. Mit dem zunehmenden Erzähltempo verschlimmert sich auch die Krankheit, bis am Ende nicht einmal die intimste Freundin Julie von Dobschütz Christine zu erreichen vermag. Die Krankheit ist durch das Nicht-vergessen-Können charakterisiert. Es stellt sich die Frage, was genau sie nicht vergessen kann. Namentlich bei Fontane sind die Interpreten immer schnell mit einer eindimensionalen Beurteilung bei der Hand, so dass nur der Ehebruch als Auslöser für das seelische Ungleichgewicht in Frage kommt. Dass Christine die Heirat nicht vergessen kann und aus diesem Grunde versucht, diese zu wiederholen, wirft ein weitaus milderes Licht auf die Gemütskranke. Einen der letzten lichten Momente erlebt Christine bei der Wiedervermählung., wo sie sich noch während der Zeremonie wie selbstverständlich an Holk wendet. Sie freut sich über die vielen erschienenen Hochzeitsgäste, die sie für eine Heilige halten, was sie aber bestreitet.

Der personale Erzähler verschafft hier dem Leser durchaus einen Informationsvorsprung, und Fontane ist als dessen Urheber diesem ausgesprochen nahe, wenn immer auch Rezepte für allerlei Tees etc. zur Hand sind. Der Autor verleugnet seine berufliche Herkunft als Apotheker keineswegs. Auch die auffällig genauen Beschreibungen von Gärten stehen in diesem Zusammenhang. Fontane stellt sich damit durchaus auf die Seite derjenigen, die psychische Erkrankungen medikamentös behandeln wollen. Die durchaus kritikwürdige Ruhigstellung mit der pharmazeutischen Keule kennt er aber (noch) nicht. (Vergl. Goethe's Wilhelm Meister, wo der Wahnsinn des Harfners ebenfalls bereits behandelbar erscheint.)

Es ist wohl auch so, dass Christine Holk eine überaus delikate Sublimierung der Grete Minde darstellt. Dass diese, durchaus das Urbild einer Terroristin, vom Irrsin gezeichnet ist, spricht der Erzähler dieser Novelle offen aus, was durchaus einen Erlösungs- und Sühnegedanken beinhaltet. Nachdem Ebba Rosenberg offensichtlich auch die Krankheit der Christine Holk durchschaut, ist ihre Ablehnung doppelt motiviert. Wie Ebba nach Holks Weggang schluchzend in die Kissen fällt, erspart Fontane seinem Lesepublikum ebenso wie frivole Anzüglichkeiten. Ausgespart wird jedoch nicht die dritte Hochzeit Christines, die in Form ihrer Beerdigung stattfindet.

Möglicherweise stellt es auch die höchste Kunst des Erzählens dar, wenn beim Leser Tränen fließen, zumal wenn die diesbezügliche Protagonistin recht eigentlich nicht das Objekt der Sympathielenkung gewesen ist. Denn für die rigiden Positionen von Christine Holk kommt an keiner Stelle Verständnis auf, höchstens eine rational motivierte Zustimmung, weil das Propagierte im kulturellen und auch religiösen Sinn kathegorischer Imperativ ist.

Auch die Struktur ist in "Unwiederbringlich" durchaus aufschlussreich. Abgesehen von den hin- und hergehenden Briefen spielt die Handlung nur am Anfang und ganz am Ende auf Schloss Holkenäs. Die Geschichte von der Ablehnung von Holks Werben durch Ebba bis zum Tod der Gräfin Christine nimmt nur eben mal ein Fünftel des Romans ein. Kaum länger ist die von dessen Anfang bis zur Abreise Holks nach Kopenhagen. Das heißt: Drei Fünftel des Romans spielen in Dänemark und handeln von Holks Mission bei der Prinzessin. Auch dieser Aufenthalt ist nicht unstrukturiert. Eine wichtige Zäsur stellt die Übersiedlung nach Schloss Fredriksborg dar. Auf Grund der ursprünglichen Planung wird klar, dass Holk seine Mission auf Fredriksborg wird beenden müssen. Die Brandkatastrophe jedoch stürzt nicht zuletzt die Handlung in's Chaos, zumindest im Vergleich zum bisherigen sehr behäbigen Fortgang. Nun überschlagen sich die Ereignisse.

Dass das letzte Fünftel des Romans drei ganze Jahre abdeckt und die Geschichte bis dahin nur wenige Monate, überrascht bei F. nicht. Jedenfalls ergibt sich die Konsequenz, dass die zweite Hochzeit und der Tod Christines, anders als bei der konkreten Vorlage zur Geschichte, doch einige Monate auseinanderliegen. Ebenso wie Hilde in Ellernklipp noch eine Chance zur Besserung im Diesseits bekommt, gewährt das Schicksal auch Christine die Möglichkeit, sich mit ihrer Umgebung auszusöhnen, was den Roman doch noch aus der Hoffnungslosigkeit herausführt.