Sonntag, 23. November 2008

Von Lesen eines Romans

In so gut wie allen Fachpublikationen zum Thema Roman gehen die Autoren davon aus, dass das Werk in seiner Gesamtheit vor dem Leser ausgebreitet erscheint. Das ist verständlich, steht doch nicht mehr das naive Lesen in Vordergrund, sondern die Analyse. Argumentationsstränge werden ausgearbeitet, Teilaspekte dargestellt. Die Abfolge der Erzählung ist wohl nicht mehr als ein solcher Teilaspekt. Sie gehorcht dem aristotelischen Prinzip, dass den Anfang nichts vorausgeht und den Ende nichts mehr folgt. Jedes weitere erzählende Element hat eines, das ihm vorausgeht und eines, welches ihm folgt. Diese "Narrateme" sind nicht willkürlich, sondern gehorchen einer strengen Abfolge, die von Autor festgelegt ist.

Die Abfolge des Geschehens ist nicht identisch mit der Abfolge der narrativen Elemente, da sowohl der Erzähler als auch jede agierende Person den Rahmen des Erzählten sprengen und über das jeweilige Element, ja sogar über Anfang und Ende hinausweisen können. Es ist in jedem Falle ratsam, bei der Lektüre mit dem Anfang zu beginnen, den narrativen Elementen in ihrer Abfolge minutiös zu folgen, um mit dem Schluss aufzuhören, zumindest in der Erzählung Schach von Wuthenow von Theodor Fontane.

Was wird hier erzählt? Nun, zunächst findet sich, bevor so etwas wie eine Handlung entsteht, der Leser in verschiedenen Salons des Berlin von etwa 1804 wieder. Nach etlichem argumentatorischen Hin und Her, das eher die Historiker betrifft als die Literaturwissenschaftler, kristallisiert sich eine delikate Beziehung zwischen einem gewissen Schach von Wuthenow und der Victoire von Carayon heraus. Schach ist schön. Victoire war schön, ist im Augenblick der Erzählung durch Blatternnarben entstellt.

Im weiteren Verlauf sucht Schach Mutter und Tochter Carayon auf - die Mutter ist immer noch eine Schönheit - trifft aber nur victoire an. Dieses offensichtlich harmlose Treffen wird von den gesellschaftlichen Instanzen zum Anlass genommen, Schach mit Victoire zu verheiraten. Dabei ist zu beobachten, dass die Liebe Schachs immer kleiner wird, während sich das in der bürgerlichen Ideologie des 19. Jahrhunderts gerade umgekehrt verhält. Herz findet sich also hier nicht zum Herzen. Eine Hochzeit wird dennoch ausgerichtet. Nach der durchaus als dürftig zu bezeichnenden Feier erschießt sich Schach von Wuthenow.

Im letzten Kapitel, also denjenigen, dem nichts mehr folgt, erfährt der Leser fast beiläufig, dass trotz der nur wenige Stunden andauernden Ehe aus dieser ein Kind hervorgegangen ist. Diese Tatsache lässt alles Vorangegangene in einem anderen Licht erscheinen. Der schöne Schach von Wuthenow muss die von Blatternnarben entstellte Victoire mindestens einmal körperlich geliebt haben. Also war das harmlose Treffen doch so harmlos nicht, und es stellt sich die Frage, wer von dieser Tatsache gewusst hat. Und die Antwort muss lauten: Niemand, am allerwenigsten diejenigen, die sich über das ungleiche Paar lustig machen.

Bei einer dieser Paraden erleidet Victoire einen Schwächeanfall, und sie beichtet ihrer Mutter. Von dem Kind erfährt der Leser dabei aber immer noch nichts. Dass Victoire der Heirat zustimmt, wäre allerdings ein Indiz gewesen, das man hätte erkennen müssen. In ähnlich gelagerten Fällen nämlich, in denen die Protagonistin nur für sich alleine zu entscheiden hat, wird der weniger erfolgreiche Galan in die Freiheit entlassen.

Der ganze innere Monolog Schachs hängt also bewusst oder unbewusst von der einmal erfüllten Liebe zu Victoire, dem Zeugugssachverhalt also, ab. Ohne überhaupt eine Idee von seiner Verantwortung zu haben, richtet sich der Protagonist selber. Er akzeptiert das gesellschaftliche Votum, das ebenfalls auf falschen Voraussetzungen beruht, entzieht sich lediglich der Ehe durch Selbstmord. Man denkt an Mephistos: "Du gleichst dem Geist, den du begreifst."

In dem hier beschriebenen Rahmen bewegen sich alle anderen Argumente. Sie sind diesem Rahmen durchaus unterzuordnen. Man muss sich klar machen, dass die Romane Theodor Fontanes meist in vorab gedruckten Fortsetzungen in Zeitschriften erschienen, so dass der "Primärleser" zum richtigen Lesen gezwungen war. Wollte er, so wie das ratsam ist, einige Stellen vertiefen, musste er sich die jeweiligen Nummern der Zeitschrift aufheben oder auf die Buchausgabe warten.